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Meldung vom: | Verfasser/in: Uta von der G?nna
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In Westeuropa nimmt die Zahl der Kinder und Jugendlichen sprunghaft zu, die sich nicht zu dem Geschlecht geh?rig fühlen, dessen Merkmale ihr K?rper aufweist, und die deshalb Hilfe suchen. Eine jetzt erschienene aktualisierte systematische ?bersichtsarbeit bewertet die Studienlage zur Pubert?tsblockade und Hormongabe bei Minderj?hrigen als unzureichend und betont die deshalb besondere Bedeutung von psychologischen und psychotherapeutischen Interventionen bei Heranwachsenden mit Geschlechtsdysphorie.
Als Geschlechtsdysphorie bezeichnen Psychologie und Medizin die Situation, wenn ein Mensch sich nicht zu dem bei der Geburt festgestellten Geschlecht geh?rig fühlt und darunter erheblich leidet. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Aufmerksamkeit für dieses Ph?nomen sowohl in der Fachwelt als auch in der ?ffentlichkeit deutlich gestiegen, was die Angabe von validen Zahlen zur H?ufigkeit der Geschlechtsinkongruenz erschwert. Bereits Kinder und Jugendliche k?nnen davon betroffen sein und suchen gemeinsam mit ihren Familien nach Hilfe.?
Oft empfinden die Betroffenen die in der Pubert?t einsetzenden k?rperlichen Ver?nderungen als bedrohlich. Die M?glichkeit, die physiologischen Prozesse der Pubert?t durch Medikamente aufzuhalten, sehen einige als Zeitgewinn für die Identit?tsfindung und als eine Belastungsminderung. Eine solche Pubert?tsblockade stellt jedoch einen massiven Eingriff in die Entwicklung k?rperlich gesunder Minderj?hriger dar. Denn die Pubert?tsblocker bremsen die Heranwachsenden auch in ihrer psychosozialen Entwicklung aus. Gleichaltrige pubertieren weiter und durchlaufen die damit verbundenen k?rperlichen, kognitiven, sozialen und auch psychischen Ver?nderungsprozesse. Inwieweit eine Pubert?tsblockade bei Betroffenen komplett oder auch nur teilweise umkehrbar ist, wenn die Medikamente abgesetzt werden, ist aktuell nicht ausreichend erforscht.
Erst Pubert?tsblocker, dann Geschlechtshormone?
Wer sich für Pubert?tsblocker entscheidet, geht h?ufig auch den n?chsten Schritt und nimmt Geschlechtshormone ein. Die Gabe von Testosteron oder ?strogen zielt auf eine ?u?erliche Verm?nnlichung bzw. Verweiblichung, also eine Ver?nderung des k?rperlichen Aussehens in Richtung des empfundenen Geschlechts. Bei dieser gegengeschlechtlichen Hormongabe nach vorheriger Pubert?tsblockade besteht für die Minderj?hrigen das Risiko von Unfruchtbarkeit. Die ?rztlich-therapeutische Beratung und Begleitung der Heranwachsenden geht deshalb mit vielen Herausforderungen einher.
?Wir wissen insgesamt noch sehr wenig über die Entwicklung von jungen Menschen, die in Kindheit oder Pubert?t wegen einer Geschlechtsdysphorie eine Pubert?tsblockade bzw. eine Hormongabe erhalten haben. Es müssen viele individuelle Aspekte berücksichtigt werden, und solide langfristige Daten fehlen uns derzeit“, sagt Prof. Dr. Florian Zepf vom Universit?tsklinikum Jena. Gemeinsam mit einem Autorenteam aus Dresden, Bochum und Mannheim hat der Direktor der Jenaer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie die zwei im Jahr 2020 erschienenen systematischen ?bersichtsarbeiten des britischen NICE-Instituts in deutscher Sprache aufbereitet und erg?nzt. Das Autorenteam, das gr??tenteils den Deutschen Zentren für Psychische Gesundheit bzw. für Kinder- und Jugendgesundheit angeh?rt, erfasste und analysierte weltweit die seitdem neu verfügbaren Studien und brachte das Wissen zu dieser Thematik auf den neuesten Stand.
Berücksichtigt wurden nur Studien mit bestimmten Qualit?tskriterien: Die Studien mussten die Pubert?tsblockade oder eine gegengeschlechtliche Hormongabe speziell bei Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie untersuchen, sie mussten die Wirkung dieser Ma?nahmen mit einer Kontrollbedingung vergleichen und als zentrale Zielgr??e den Effekt auf das durch Geschlechtsinkongruenz empfundene Leid und die psychische Gesundheit erfassen. Das Ergebnis der erneuten systematischen Literatursuche: Zur Pubert?tsblockade fand sich keine einzige neue Studie mit einer entsprechenden klinisch-wissenschaftlichen Mindestqualit?t. Die bereits 2020 betrachteten neun Studien hatten keine standardisiert und objektiv erfassten deutlich positiven Effekte der Pubert?tsblockade berichten k?nnen.
Kaum Neues und Belastbares
Zu den von NICE im Jahr 2020 diskutierten Hormonstudien waren lediglich zwei aktuelle Studien mit den geforderten Standards hinzugekommen. Diese neuen Studien umfassten jedoch ausschlie?lich biologisch weibliche Minderj?hrige, die Testosteron erhielten. Teilweise beobachteten die Studien einmalige unspezifische Verbesserungen hinsichtlich ?ngsten und Depressivit?t und auch eine Tendenz zu einer verringerten Suizidalit?t, konnten diese Effekte jedoch nicht eindeutig der Hormongabe zuordnen. Insgesamt konnte das Autorenteam kaum Neues und Belastbares verzeichnen. Die meisten verfügbaren Studien sind Beobachtungsstudien, und vielfach weisen sie methodische M?ngel auf.
?Die Studienlage zur Pubert?tsblockade und Hormongabe bei Minderj?hrigen mit Geschlechtsdysphorie ist derzeit sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit unzureichender Methodik und Qualit?t, so dass das klinisch-wissenschaftliche Vertrauen in die Ergebnisse aktuell gering ist. Aussagekr?ftige kontrollierte Langzeitstudien dazu fehlen derzeit“, fasst Erstautor Zepf die neue ?bersichtsarbeit zusammen. Die langfristigen Risiken der Pubert?tsblockade und der Hormongabe lassen sich deshalb kaum absch?tzen. Vor allem aber fehle der belastbare und sichere Nachweis, dass die jeweilige medizinische Ma?nahme die angestrebte Wirkung tats?chlich erreicht. Florian Zepf: ?Die Studien- und Evidenzlage zeigt derzeit nicht mit ausreichender Zuverl?ssigkeit, dass sich die Geschlechtsdysphorie und die psychische Gesundheit bei betroffenen Minderj?hrigen durch Pubert?tsblockade und Hormongabe im Verlauf sicher und bedeutsam verbessern.“ Deshalb spielt für das Autorenteam die psychologische bzw. psychotherapeutische Begleitung der Betroffenen eine besonders wichtige Rolle.
Dies betrifft auch die Diagnostik bei der Abgrenzung von eventuellen begleitenden psychischen St?rungen, die dann behandelt werden sollten. ?Dabei kommt ebenso psychologischen und psychotherapeutischen Interventionen eine besondere Bedeutung zu. Solche Interventionen sind jedoch explizit nicht als eine Konversionstherapie mit dem Ziel einer Vers?hnung mit dem biologischen Geburtsgeschlecht zu sehen“, betont Letztautor Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann von der LWL-Universit?tsklinik Hamm. Es gehe vielmehr darum, den individuellen Leidensdruck der Heranwachsenden zu mindern. ?Wenn nach sorgf?ltigster und sehr strenger individueller Abw?gung mit den Betroffenen und den Eltern die Entscheidung für eine Blockade der Pubert?t oder für die Gabe von Hormonen fallen sollte“, erg?nzt Holtmann, ?dann sollte dies nach M?glichkeit im Rahmen von klinischen Studien erfolgen, damit wir das klinische Wissen zur derzeit fraglichen Wirksamkeit und zu den Risiken dieser Ma?nahmen verbessern k?nnen.“?
Original-Publikation:
Zepf FD, et al.: Beyond NICE: Aktualisierte systematische ?bersicht zur Evidenzlage der Pubert?tsblockade und Hormongabe bei Minderj?hrigen mit Geschlechtsdysphorie. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 2024, https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000972Externer Link
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