
- Forschung
Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
Schriftquellen finden, sie auswerten und die Ergebnisse der Analyse für die Beantwortung einer Forschungsfrage nutzen – so arbeiten Historikerinnen und Historiker. ?ber Jahrhunderte hinweg hie? das vor allem: in Archiven und Bibliotheken Papiere suchen und Bücher w?lzen, Karteien anlegen und dann Antworten auf Forschungsfragen aufschreiben und publizieren. Inzwischen werten Forschende in den Geschichts- und auch anderen Geisteswissenschaften für ihre Arbeit vermehrt digitale Ressourcen mit computergestützten Verfahren aus. Im Rahmen des neuen Projekts ?Forschungsdateninfrastruktur für historische Quellen“ (HisQu) entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universit?t Jena deshalb gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom Deutschen Historischen Institut in Rom, von der Nieders?chsischen Akademie der Wissenschaften zu G?ttingen sowie von der Forschungsbibliothek Gotha der Universit?t Erfurt neue digitale Methoden und Infrastrukturen für diese Verfahrensweise. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt das Digital-Humanities-Projekt in den kommenden drei Jahren mit 1,9 Millionen Euro – 1,1 Millionen Euro davon gehen nach Jena.?
?Wir wollen eine digitale Forschungsdateninfrastruktur entwickeln, die es erm?glicht, auf allen Ebenen des wissenschaftlichen Arbeitens digitale Methoden und Prozesse zu nutzen“, erkl?rt der Historiker apl. Prof. Dr. Robert Gramsch-Stehfest von der Universit?t Jena. ?Und dafür brauchen wir Quellen, die in digitaler Form vorliegen, sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die diese fachgerecht auswerten und den Analyseprozess formalisieren k?nnen“, erg?nzt der Jenaer Informatiker Prof. Dr. Clemens Beckstein.?
Quellen zur Kirchengeschichte
Als Datengrundlage stellen die Projektpartner in G?ttingen und Rom mittelalterliche Quellen zur Kirchengeschichte zur Verfügung. Diese liegen als sogenannte Regesten vor. Das sind formalisiert erstellte Inhaltszusammenfassungen, die bereits seit Jahrhunderten Historikerinnen und Historikern dabei helfen, sich einen ?berblick über bestimmte Quellenkomplexe zu verschaffen, ohne jede einzelne Urkunde in die Hand nehmen zu müssen. Sie liegen inzwischen zwar meist in digitaler Form vor, doch nicht immer sind ihre Inhalte für den Computer verarbeitbar. Deshalb müssen die Forschenden im Rahmen des neuen Projekts zun?chst alle Texte in semantisch strukturierte Daten umwandeln.?
Erstellen eines Kategoriensystems
Um alle Quellen semantisch zu erschlie?en und somit wesentliche Informationen herauszudestillieren, ben?tigt die Plattform eine sogenannte Ontologie. ?Wir müssen ein Kategoriensystem entwickeln, das für unseren Themenbereich – also Kirchenrecht, Kirchenverwaltung und ?hnliches – funktioniert“, erkl?rt Robert Gramsch-Stehfest. ?Genau genommen denken wir uns dieses System nicht aus, sondern rekonstruieren das, was bereits w?hrend des Erstellens der Quellensammlungen zum Tragen gekommen ist.“?
Mit der Hilfe eines solchen Systems k?nnen Historikerinnen und Historiker eine Vielzahl von Quellen gleichzeitig auswerten und beispielsweise Personen, Orte, Rechtsakte oder Besitzverh?ltnisse herausfiltern. Exemplarisch untersuchen die Mitwirkenden beispielsweise den Geldverkehr zwischen dem Vatikan und deutschen Kirchenvertretern. Dank der digitalen Methoden k?nnen sie so etwa Protagonisten herausfiltern, Netzwerkanalysen betreiben sowie zeitliche Verl?ufe und geographische R?ume n?her betrachten.
FactGrid als Wissensspeicher
Um die gewonnenen Daten strukturiert zu erfassen und mit internationalen Standards sowie Projekten wie Wikidata zu vernetzen, setzt das Projekt auf die Plattform ?FactGrid – a database for historiansExterner Link“. Die auf Wikibase-Technologie basierende Datenbank funktioniert ?hnlich wie Wikipedia und erm?glicht eine offene, kollaborative Zusammenarbeit zwischen Forschenden an verschiedenen Standorten. Mit FactGrid lassen sich komplexe Beziehungen zwischen Personen, Institutionen, Ereignissen und Orten pr?zise abbilden. Dadurch entstehen dynamische Wissensnetzwerke, die historische Entwicklungen transparenter machen.?
Digitales Labortagebuch
?Unser Fokus liegt aber nicht auf den geschichtswissenschaftlichen Fragen“, sagt Clemens Beckstein. ?Vielmehr konzentrieren wir uns auf die einzelnen Methoden, die zusammengenommen eine Forschungsinfrastruktur bilden. Diese soll modular aufgebaut sein, damit sie sich auf viele weitere ?hnliche Quellensammlungen und Problemstellungen anwenden l?sst. Wir wollen Standards setzen, auf denen weitere Projekte dieser Art aufbauen k?nnen.“ Denkbar seien hier nicht nur Schriftquellen, sondern auch andere Sammlungsbest?nde, etwa aus der Arch?ologie.
Wichtig ist den Forschenden au?erdem, dass die Ergebnisse, die mithilfe der digitalen Forschungsdateninfrastruktur erzielt wurden, dort auch hinterlegt sind, so dass weitere Nutzerinnen und Nutzer davon profitieren. Zu diesem Zweck dokumentiert die Infrastruktur sogar den Weg zu einzelnen Forschungsergebnissen – mit Hilfe einer Art Labortagebuch. ?Diese Methode ist in den Naturwissenschaften schon lange üblich“, erkl?rt Clemens Beckstein. ?Sie hilft dabei, die Vorgehensweise der Forschenden nachzuvollziehen und zu reproduzieren, gibt m?glicherweise wichtige Impulse für ?hnliche Problemstellungen und liefert hierfür wertvolle Zwischenergebnisse.“?
Dass die Universit?t Jena die Federführung des neuen Projekts innehat, ist kein Zufall. Bereits seit rund zehn Jahren kooperieren hier Geschichtswissenschaft und Informatik im Rahmen der Initiative ?Digitale Modelle, Erkl?rungen und Prozesse in den Historischen Wissenschaften“ (kurz: MEPHISTO), integrieren Digital Humanities in Lehrveranstaltungen und setzen gemeinsam Projekte um. ?Dass hier Expertinnen und Experten aus den beiden doch recht unterschiedlichen Disziplinen gleichrangig zusammenarbeiten und dabei jeweils für sich einen Nutzen daraus ziehen k?nnen, ist nicht unbedingt üblich. Denn bei einer solchen Zusammenarbeit gilt es durchaus, Hürden zu überwinden“, sagt Gramsch-Stehfest. ?Man muss eine gemeinsame Sprache entwickeln, dem anderen die eigenen Inhalte und Verfahrensweisen verst?ndlich machen und mitunter auch die Grenzen des Machbaren aufzeigen“, erg?nzt Beckstein.?