
- Forschung
Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
Zeichnungen eines sezierten Hais von Miklucho-Maclay, Fig. 6 zeigt die betreffende Ausstülpung, die er für das Rudiment einer Schwimmblase hielt (?b“ in Abb. 1-2).
Foto: Jenaische Zeitschrift für Medicin und NaturwissenschaftHaben Haie eine Schwimmblase, die ihnen wie den meisten anderen Fischen dabei hilft, im Wasser zu schweben? Diese Frage, die heutige Biologen mit einem klaren ?Nein“ beantworten k?nnen, sorgte vor rund 150 Jahren noch für hitzige Diskussionen. Wie bereichernd diese auch heute noch sein k?nnen, das zeigen jetzt Wissenschaftshistoriker und Biologen der Friedrich-Schiller-Universit?t Jena und des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (SHEP) an der Eberhard Karls Universit?t Tübingen. Sie haben einen Briefwechsel zwischen den beiden Pionieren der Evolutionsforschung Charles Darwin und Ernst Haeckel aus dem Jahr 1868 entdeckt, in dem diese ausführlich über ein m?gliches Schwimmblasen-Rudiment bei Haien diskutieren. Durch den schriftlichen Austausch der beiden Vordenker l?sst sich die damalige Evolutionsforschung hautnah miterleben und sie inspiriert dazu, unseren Standpunkt in der heutigen Wissenschaft kritisch zu hinterfragen. Die Hauptrolle in diesem Austausch spielt aber ein weniger prominenter, jüngerer Kollege.
Haeckel begeistert – Darwin skeptisch
Ausschlaggebend für ihre Diskussion ist die Forschung von Haeckels damaligem Assistenten Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclay. Der russisch-st?mmige Wissenschaftler, der sp?ter vor allem als Ethnologe Berühmtheit erlangte, begleitete seinen Lehrer im Herbst 1866 auf eine Forschungsreise auf die Kanarischen Inseln. Dort untersuchte er unter anderem die Gehirne von Haien und entdeckte dabei eher zuf?llig hinter den Kiemen?ffnungen, oben im ?bergang zum Darmbereich der Tiere, eine Ausstülpung. ?Dieses Gebilde interpretierte Miklucho-Maclay als Rudiment einer Schwimmblase, die bei den Vorfahren aller Wirbeltiere vorhanden gewesen sein musste“, sagt der Senckenberger Dr. Ingmar Werneburg. ?Haeckel war begeistert von dieser Entdeckung, da sie seine These unterstützte. Denn er ging davon aus, dass Haie ursprüngliche Wirbeltiere seien, aus denen die Knochenfische, die Lungenfische und sp?ter die Landwirbeltiere hervorgegangen w?ren. Somit w?re die Schwimmblase evolution?r vor der Lunge entstanden.“
Die Entdeckung teilte er in einem Brief seinem von ihm verehrten Kollegen Charles Darwin mit, der am 6. Februar 1868 allerdings eher skeptisch antwortete: ?Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir über seine Entdeckung der Schwimmblase erz?hlen […].“ Da der Brite in v?terlichem Ton ?Mikluska“ statt ?Miklucho“ schrieb, blieb der Wissenschaftsgeschichte die Verbindung zu Haeckels Assistenten lange verborgen. Darwin hatte ein anderes Bild der Wirbeltier-Verwandtschaft im Kopf, was zur Verwirrung beitrug: ?Er ging davon aus, dass die Lungenfische ursprünglich seien und sich alle Wirbeltiere – auch die Knorpelfische, zu denen die Haie geh?ren – daraus entwickelt h?tten“, sagt Werneburg. ?Entsprechend war für Darwin die Lunge das ursprüngliche Gas-Organ.“ Haeckel sollte aber mit seinem Stammbaumentwurf weitestgehend recht behalten, obwohl die Haie seit dem Ursprung aller Wirbeltiere natürlich auch eigenen Ver?nderungen ausgesetzt waren und heute nicht v?llig den ursprünglichen Zustand repr?sentieren.
Aber es gab noch einen anderen Streitpunkt: ?Die von Miklucho-Maclay entdeckte Ausstülpung hielt Darwin nicht für eine rudiment?re Schwimmblase, sondern für eine undifferenzierte Struktur, aus der sich evolution?r einmal eine solche ausbilden k?nnte“, erkl?rt Werneburg. Heute sind sich die Forschenden weitgehend einig, dass Darwin mit dieser Einsch?tzung recht hatte.
?Es kommt selten vor, dass zwei Geistesgr??en einer Wissenschaft sich in ihrer Korrespondenz den Forschungsergebnissen eines bettelarmen und unbekannten Studenten widmen“, sagt Prof. Dr. Uwe Ho?feld von der Universit?t Jena, der seit einigen Jahren gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Georgy Levit das Wirken Miklucho-Maclays erforscht. Die gefundene Textstelle ist für ihn einmal mehr ein Beleg dafür, welch wissenschaftliches Verm?chtnis der junge Russe hinterlassen hat und welchen Einfluss er in wenigen Forschungsjahren – er starb im Alter von 41 Jahren – auf die Geschichte der Zoologie ausgeübt hat, nicht nur an der Universit?t Jena.
Lunge oder Schwimmblase – das ist hier die Frage
Doch was genau hatte Haeckels Assistent da entdeckt? Um das darzustellen, hat der Tübinger Evolutionsbiologe Werneburg, der übrigens an der Universit?t Jena studiert hat, Querschnittabbildungen von Hai-Embryonen analysiert und die Erkenntnisse aus 100 Jahren Forschung, die nach dem Briefwechsel einsetzte, best?tigen k?nnen: ?Haie und andere Fische atmen durch Kiemen, die im Inneren mit Kiemens?cken verbunden sind. Fünf Kiemen?ffnungen auf jeder Seite sind heute bei Haien üblich, ihre Vorfahren hatten m?glicherweise mehr, weshalb die heutigen Hai-Embryonen noch einige undifferenzierte Kiemens?cke als Anlagen aufweisen. Sie sind nur als kleine Forts?tze zu sehen, die sich nicht zu Kiemen umbilden, sondern nur nach verschiedenen Seiten hin aussacken“, sagt der Zoologe. ?Ein solches Gebilde hat Miklucho-Maclay auch noch in ausgewachsenen Haien gefunden.“
In der Evolution haben sich aus den embryonalen Forts?tzen Lungen oder Schwimmblasen entwickelt, fassen die Forscher zusammen. Und die Besch?ftigung mit dem über 150 Jahre alten Briefwechsel brachte sie auch zu neuen ?berlegungen, warum sich nur eines der beiden Organe jeweils ausbildete und es nicht etwa Tiere gibt, die sowohl Schwimmblase als auch Lungen haben. Eventuell hatte das mit dem verfügbaren Platz in der K?rperh?hle zu tun, der wiederum mit den Lebensbedingungen der Tiere verbunden ist. ?Fische beispielsweise, die in offenen Gew?ssern schwimmen, sind im Querschnitt eher vertikal ausgerichtet, was im oberen Bereich ihres Rumpfes mehr Platz l?sst, in dem sich eine unpaare Schwimmblase, die vorrangig eine hydrostatische Funktion übernimmt, ausdehnen kann“, sagt Ingmar Werneburg. ?Fische dagegen, die h?ufiger am steinigen oder bewachsenen Grund von flachen Gew?ssern leben, bilden eher eine zweiflüglige Lunge aus. Die Flossen sind mehr in die Breite angelegt und schaffen so im Inneren Platz für die Ausbildung der seitlichen Atmungsorgane aus zwei der unteren embryonalen Aussackungen.“?
Das vorliegende Ergebnis zeigt einmal mehr, wie wichtig moderne Museums- und Archivarbeit ist, auch bei der Untersuchung aktueller Fragen – beispielsweise im Rahmen der Biodiversit?tsforschung. Ein neues Senckenberg-Institut, das derzeit rund um das Herbarium Haussknecht der Universit?t Jena entsteht, unterstreicht diesen Anspruch.
Original-Publikation:
I. Werneburg, U. Ho?feld, G. S. Levit: Darwin, Haeckel, and the “Mikluskan gas organ theory“, Developmental Dynamics, 2023, DOI: https://doi.org/10.1002/dvdy.661Externer Link

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