
- Forschung
Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
In die Zukunft schauen k?nnen ist eine Superkraft, die jeder Mensch besitzt. Denn wir alle treffen tagt?glich kleine Vorhersagen, beispielsweise wenn wir anderen Menschen begegnen. Gehen zwei Personen in einer Fu?g?ngerzone aufeinander zu, dann sehen sie in der Regel die Bewegung des jeweiligen Gegenübers vorher, um das eigene Verhalten entsprechend anzupassen und kollisionsfrei aneinander vorbeizugehen. Für diesen komplexen Prozess der Vorhersage, den Expertinnen und Experten Antizipation nennen, nutzen wir verschiedene Informationen, wie etwa Erfahrungswerte oder die K?rperhaltung des Gegenübers. Doch welche Rolle spielt bei dieser Vorwegnahme eines Bewegungsablaufs eigentlich die situative Interaktion zwischen den beiden Personen? Diese Frage wurde bei der Erforschung von Antizipationsprozessen bisher kaum berücksichtigt. Deshalb will sich der Bewegungs- und Sportpsychologe Prof. Dr. Rouwen Ca?al Bruland von der Friedrich-Schiller-Universit?t Jena ihr im Rahmen seines neuen Forschungsprojekts ?Navigating Anticipation Research to New Frontiers“ widmen. Unterstützt wird er hierbei von der VolkswagenStiftung, die das Projekt für vier Jahre mit rund 800.000 Euro f?rdert.?
Wie antizipiert der Torwart, wohin der Ball fliegt?
Wenn in der Sportwissenschaft Experimente zur Antizipation durchgeführt werden, dann beschr?nken sie sich in der Regel auf Videoaufzeichnungen einer Person, auf die Probanden reagieren. ?Wir untersuchen beispielsweise, was den Torwart in einem Elfmeterschie?en in die Lage versetzt, zu antizipieren, wohin der Ball fliegen wird, indem wir aus der Perspektive des Torhüters den Schützen und den Ball betrachten“, erkl?rt Rouwen Ca?al Bruland. ?Durch verschiedene Formen der Videoanalyse k?nnen wir so bestimmte Merkmale der K?rperhaltung des Schützen identifizieren, die dem Torwart Informationen liefern, wohin dieser den Ball schie?en wird. Oder wir k?nnen Flugkurven untersuchen, die ebenfalls Vorhersagen erm?glichen, wohin der Ball fliegen k?nnte. Was wir bisher aber nicht berücksichtigt haben, ist die Interaktion zwischen Schütze und Torwart. Wie reagiert der Schütze w?hrend des Elfmeters etwa auf einen Ausfallschritt des Torwarts – und wie reagiert der Torwart wiederum auf die m?gliche Reaktion des Schützen, und so weiter.“?
Wirklichkeit im Labor
Um den Einfluss solcher Handlungskaskaden in der Antizipation erforschen zu k?nnen, bedarf es eines Paradigmenwechsels und neuer Untersuchungsmethoden. ?Wenn wir mit unseren Forschungsergebnissen die Wirklichkeit verstehen wollen, indem wir kognitive Prozesse, Antizipation und Wahrnehmung untersuchen, dann müssen wir uns zun?chst die Wirklichkeit ins Labor holen“, sagt Ca?al Bruland. ?Denn nur hier behalten wir die volle experimentelle Kontrolle, um solche Interaktionen umf?nglich abbilden zu k?nnen.“ Zwar griffen anspruchsvolle Versuchsanordnungen bereits moderne technologische Simulationen im Virtual-Reality-Bereich (VR) auf, doch würden unmittelbare Interaktionen typischerweise bisher nicht einbezogen. ?In einer Elfmetersituation reagiert der Avatar des Schützen in einer VR-Simulation eben noch nicht auf die Bewegungen des Probanden als Torwart. Diese Interaktionen sind aber in der Realit?t Grundlage für Verhaltensentschei?dungen“, sagt der Jenaer Sportwissenschaftler.?
In einem ersten Schritt will er mit einem interdisziplin?ren Team ein VR-Labor aufbauen, in dem die Forschenden zun?chst kinematisch aufzeichnen und analysieren, welche prototypischen Interaktionen zwischen zum Beispiel einem Schützen und einem Torwart ablaufen. Anhand dieser Daten erstellen sie einen Avatar, der so programmiert sein wird, dass er prototypisch auf Bewegungen des Probanden reagiert. Auf der Grundlage dieses neuen Paradigmas schlie?en sich dann erste Experimente an, um g?ngige Hypothesen und Befunde der Antizipationsforschung zu überprüfen.?
?ber den Sport hinaus?
?Mit unserem Projekt bewegen wir uns in von der Antizipationsforschung bisher nicht erschlossenem Terrain und werden dementsprechend auch nicht wenigen Unw?gbarkeiten begegnen“, sagt Rouwen Ca?al Bruland. ?Deshalb freue ich mich ganz besonders darüber, dass ich mich mit meiner Projektidee in der sehr kompetitiven Momentum-Initiative der VolkswagenStiftung durchsetzen konnte und relativ ergebnisoffen unser Forschungsprofil hier in Jena im Bereich Antizipationsforschung interdisziplin?r weiterentwickeln kann.“
Der praktische Nutzen dieser Arbeit beschr?nkt sich dabei bei weitem nicht nur auf den Sport und auf kompetitive, sondern auch auf kooperative Interaktionen. ?Wir betreiben hier Grundlagenforschung, die auch in angrenzenden Fachgebieten Verwendung finden kann, etwa in der Kognitionsforschung, den Sozial- und Verhaltenswissenschaften oder auch der Robotik“, informiert der Jenaer Bewegungs- und Sportpsychologe. Forschungsergebnisse auf diesem Feld k?nnen in vielen Bereichen Anwendung finden, in denen Menschen mit Menschen, aber auch mit Maschinen oder Künstlicher Intelligenz interagieren wie zum Beispiel mit autonomen Fahrzeugen.