
- Forschung
Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
Vor allem die Einwohnerinnen und Einwohner wirtschaft?lich abgeh?ngter Orte und Regionen w?hlen rechtspopulistische Parteien – so eine g?ngige These, die die Wahlerfolge von AfD & Co. in Europa erkl?rt. Ein Forschungsteam der Friedrich-Schiller-Universit?t Jena hat nun herausgefunden, dass hohe Stimmanteile der AfD in den letzten beiden Bundestagswahlen offenbar mit einem langfristigen Rückgang des relativen Wohlstands einer Region zu erkl?ren sind. Da dieser Bedeutungs?verlust über die Lebensspanne der Bewohnenden solcher scheinbar abgeh?ngten Orte hinausgeht, spielt hier offenbar eine Art von kollektivem Ged?chtnis eine Rolle. Die Ergebnisse ihrer durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gef?rderten Arbeiten pr?sentieren die Jenaer ?konominnen und ?konomen in der Fachzeitschrift ?Journal of Regional Science“.
Abstieg im Ranking
Für ihre Arbeit haben die Jenaer Forschenden eine Zeitspanne von fast hundert Jahren in den Blick genommen. Anhand von Daten zum regionalen Pro-Kopf-Einkommen in den Jahren 1925 und den beiden Bundestags?wahl?jah?ren 2017 und 2021 verglichen sie die Einkommensposition einer Region im nationalen Wirtschaftsranking und stellten sie den jeweiligen Abstimmungsergebnissen für die AfD gegenüber. ?Dabei ergab sich, dass die Stimmenanteile für die AfD in den Gegenden relativ hoch waren, die in den Ranglisten besonders stark abgestiegen sind“, erkl?rt Prof. Dr. Michael Fritsch von der Universit?t Jena. ?Landstriche wie Südsachsen und St?dte wie Bautzen oder Dresden geh?rten in den 1920er Jahren deutschland- wenn nicht gar europaweit zur wirtschaft?lichen Spitzengruppe, haben aber in der weiteren zeitlichen Entwicklung enorm an wirtschaftlicher Bedeutung eingebü?t. Gerade in diesen Gebieten ist die Zustimmung zur AfD besonders hoch, auch wenn man andere m?gliche Bestimmungsgründe des W?hlerverhaltens berücksichtigt.“ Gleiches gilt beispielsweise für das Ruhrgebiet bzw. die Stadt Duisburg, was zeige, dass solche Ph?nomene sich nicht auf Ostdeutschland beschr?nken.
Das Jenaer Team hebt besonders hervor, dass offenbar der Vergleich des eigenen Status mit anderen Regionen eine entscheidende Rolle spielt, denn prinzipiell habe der Wohlstand in allen Regionen zugenommen. ?Das Einkommen in Südsachsen ist seit der Wiedervereinigung angestiegen und die Region ist im Osten bei Innovationen, Einkommenszuwachs und Unternehmensgründungen führend“, sagt Fritsch. ?Doch der Abstieg des Wirtschaftsstandorts von einer Führungsposition ins derzeit untere Viertel hinterl?sst Spuren im Selbstverst?ndnis und sorgt dafür, dass sich die Menschen st?r?ker abgeh?ngt fühlen, als sie es eigentlich sind.“ Der Unmut ist offensichtlich beson?ders gro?, wenn man wei?, dass es wesentlich bessere Zeiten gegeben hat. Ausdruck dieser Frustration sei auch die Entscheidung an der Wahlurne für eine rechtspopulis?tische Partei.
Industriedenkm?ler als Abbild reicher Vergangenheit
Die Wahrnehmung des eigenen Niedergangs ist offenbar in einer Art kollektivem Ged?chtnis verankert. Um abzubilden, wie stark und lebendig die Erinnerung an frühere Zeiten in einer Region ist, w?hlten die Jenaer Expertinnen und Experten eine ungew?hn?liche Methode: ?Wir haben das Vorhandensein von Industriedenkm?lern in Bezug gesetzt mit den Variablen, die den wirtschaftlichen Abstieg in den vergangenen 90 Jahren anzeigen. Hierbei hat sich herausgestellt, dass der von uns beobachtete Abstiegseffekt st?rker ist in den Regionen, in denen sich besonders viele solcher Erinnerungsst?tten befinden“, sagt Dr. Maria Greve, die an dem Projekt mitgewirkt hat. ?Dort wo das Bewusstsein für eine reiche Vergangenheit besonders stark ausgepr?gt ist und die regionale Identit?t besonders beeinflusst, ist auch die Korrelation zwischen gefühltem Abstieg und dem Wahlerfolg der Rechtspopulisten besonders deutlich.“
Mit dem Blick in die Vergangenheit wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissen?schaftler aufzeigen, wie wichtig es ist, den zeitlichen Horizont zu weiten, wenn man den Ursachen solcher Ph?nomene wie dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien in Deutschland und Europa auf den Grund gehen will. ?Wir heben hervor, dass wir für Analysen gegenw?rtiger Situationen und Entwicklungen nicht nur die Zeitspanne seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder ab dem Umbruch rund um die Wiedervereini?gung betrachten, sondern weiter in die Geschichte zurückblicken“, sagt Dr. Michael Wyrwich von der Universit?t Jena. ?M?glicherweise erschlie?t das Pr?gungen, die Ph?nomene erkl?ren, und macht Rollenbilder sichtbar, die sich politisch nutzen lassen, um ein neues Selbstbewusstsein entstehen zu lassen.“
Original-Publikation:
Greve, M. Fritsch, M. Wyrwich: Long-Term Decline of Regions and the Rise of Populism: The Case of Germany, Journal of Regional Science, 2022. https://doi.org/10.1111/jors.12627Externer Link?