Alles anders in diesem Semester!
Nicht nur Frauen befinden sich in einer diskriminierten und unterdrückten Position im Geschlechterverh?ltnis, sondern auch inter* und non-binary* und trans*personen.
Darum sprechen wir dieses Semester mit Dr. Robin K. Saalfeld als wissenschaftlichen Experte zum Thema geschlechtliche Vielfalt und die entsprechenden Handlungsbedarfe innerhalb der Gesellschaft und an der Friedrich Schiller Universit?t.
Lassen Sie uns mit Ihrer Person beginnen: Wie sind Sie an die Hochschule gekommen? Was sind Ihre Aufgabenbereiche?
Mein Name ist Dr. Robin K. Saalfeld, ich arbeite aktuell als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) in einem soziologischen Drittmittelprojekt an der FSU Jena. Das Projekt widmet sich der Verhandlung von Eigentum in Paarhaushalten und ist im Sonderforschungsbereich 294 ?Strukturwandel des Eigentums“ angesiedelt. Ich bin hier vorrangig in der Forschung t?tig, gebe aber auch Lehrveranstaltungen im Rahmen meiner Projektt?tigkeit. Zuvor habe ich an der FSU Jena meine Doktorarbeit in der Soziologie zum Thema ?Transgeschlechtlichkeit und Visualit?t“ abgeschlossen und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften im Bereich Filmwissenschaft. An die FSU Jena gekommen bin ich bereits 2006, um mein Studium der Medienwissenschaft, Soziologie und Psychologie zu absolvieren.
K?nnen Sie erkl?ren, was mit geschlechtlicher Vielfalt gemeint ist? Einige Leser*innen sind m?glicherweise verwirrt, da sie nur von Frauen und M?nnern ausgehen.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der oft selbstverst?ndlich davon ausgegangen wird, dass Geschlecht eine biologische Tatsache ist und dass es lediglich zwei Geschlechter gibt: M?nner und Frauen. Die meisten Gesellschaftsmitglieder nehmen an, dass die Geschlechtszugeh?rigkeit eindeutig und unver?nderlich gegeben ist, d.h. nicht so ohne weiteres gewechselt werden kann. Scheinbar ganz zweifellos identifizieren sich die meisten Menschen mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Es gibt jedoch eine Vielzahl an Menschen, die sich nicht (vollst?ndig) mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren k?nnen oder wollen. Einige dieser Menschen bezeichnen sich als transgeschlechtlich oder transsexuell, andere nutzen Selbstbezeichnungen wie transident oder trans*. Das Sternchen bei trans* ist eine gute M?glichkeit, diese Vielf?ltigkeit an Selbstbezeichnungen und Lebensrealit?ten deutlich zu machen.
Auch nicht- oder non-bin?re Menschen erleben das System der Zweigeschlechtlichkeit als einschr?nkend. Nicht- oder non-bin?re Menschen identifizieren sich weder als g?nzlich weiblich noch als g?nzlich m?nnlich. Manche von ihnen lehnen die Zuschreibung eines Geschlechts auch vollst?ndig ab und verstehen sich eher als geschlechtslos. Einige trans* und nicht/non-bin?re Menschen ver?ndern ihren K?rper mittels Hormone oder chirurgischen Eingriffen, andere ver?ndern lediglich ihren Vornamen, wollen mit den korrekten Pronomen angesprochen werden und passen ihre Kleidung, ihren Haarschnitt und ihr Auftreten entsprechend ihres Geschlechtsempfindens an.
Des Weiteren gibt es Menschen, die angeborene k?rperliche Merkmale aufweisen, die nicht in die bin?re Norm von m?nnlich und weiblich passen. Das nennt man dann Intergeschlechtlichkeit oder Intersexualit?t. Auch hier nutzen einige inter* (mit Sternchen) als M?glichkeit, verschiedene Selbstbezeichnungen sprachlich zu repr?sentieren.
Obwohl nicht ganz klar ist, wie viele Menschen trans*, nicht-/non-bin?r und/oder inter* sind, so wird davon ausgegangen und gesch?tzt, dass sie rund 1-2% der Bev?lkerung ausmachen. Wenn die FSU Jena aus rund 26.000 Studierenden und Mitarbeitenden besteht, so sind immerhin 260 davon trans*, nicht-/non-bin?r und/oder inter*. Die Lebensrealit?ten in Bezug auf Geschlecht sind also sehr vielf?ltig, auch an der FSU Jena.
Wie sch?tzen Sie die Situation von trans* und inter* Personen in unserer Gesellschaft ein? Was hat sich in den letzten Jahren ver?ndert?
Das Thema geschlechtliche Vielfalt hat in den letzten Jahren vermehrt mediale Aufmerksamkeit erhalten. Die Sensibilit?t dafür w?chst zaghaft. Nichtsdestotrotz erleben trans*, nicht-/non-bin?re und inter* Personen nach wie vor gesellschaftliche Ausgrenzung und Benachteiligungen und sind mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, sei es im Arbeitsleben, auf dem Wohnungsmarkt, im Zugang zu einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung oder im Bildungsbereich. In erheblichem Ma?e sind sie oftmals Diskriminierung, Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt. So ist aus Studien bekannt, dass trans*, nicht/non-bin?re und inter* Personen ein erh?htes Risiko für Arbeitslosigkeit und Armut aufweisen und aufgrund von Diskriminierungserfahrungen sehr viel st?rker psychisch belastet sind.
Schon rein rechtlich ist es für jene Menschen schwierig, Akzeptanz und Anerkennung zu erfahren. So gilt für trans* Personen noch immer das im Jahr 1981 verabschiedete Transsexuellengesetz. Das Gesetz regelt die ?nderung des amtlichen Personenstandes (Geschlechtseintrag) und die ?nderung des Vornamens. In vielerlei Hinsicht verletzt das Gesetz die Würde des Menschen, denn es setzt langwierige und vor allem kostenintensive psychiatrische Begutachtungsprozesse voraus. Das ist nach wie vor so, auch wenn Transgeschlechtlichkeit seit wenigen Jahren nicht mehr als psychiatrische Erkrankung gilt. Im Rahmen der Begutachtung geht es darum, dass trans* Personen die eigene Geschlechtsidentit?t beweisen müssen. Dabei muss meist die gesamte Lebensgeschichte offengelegt werden. Konfrontiert werden trans* Personen mit ?u?erst intimen Fragen zum Sexualverhalten. Das erleben die meisten als entwürdigend. Der Sinn dieses Verfahrens muss bezweifelt werden, denn in 99% der F?lle werden trans* Personen letztlich positiv begutachtet. Wer wei? auch besser über die Geschlechtsidentit?t bescheid als die betroffene Person selbst? Bis vor etwa zehn Jahren war es sogar noch üblich, dass sich trans* Personen zwangssterilisieren lassen oder – bei verheirateten Personen – die Scheidung einreichen mussten, damit ihr Geschlechtseintrag offiziell korrigiert wurde. Seit vielen Jahren setzen sich trans* Personen und Betroffenenverb?nde deshalb für die Abschaffung des Gesetzes ein und fordern stattdessen ein unbürokratisches und einfaches Verfahren, um den Vornamen und den Personenstand im Pass zu ?ndern. Ein solches Selbstbestimmungsgesetz, wovon auch nicht/non-bin?re Personen profitieren k?nnten, gibt es bislang noch nicht, aber in der Bundesregierung wird es aktuell zumindest diskutiert.
Auch für inter* Personen hat sich in den letzten Jahren einiges, aber doch noch zu wenig ver?ndert. Seit Ende 2018 gibt es den dritten, positiven Geschlechtseintrag: divers. 2021 wurde au?erdem das ?Gesetz zum Schutze von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verabschiedet, das nicht lebensnotwendige Operationen und Hormongaben an inter* Kindern verbietet. Zuvor war es so, dass viele inter* Babies und Kleinstkinder einem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurden, mit entsprechenden geschlechtszurichtenden Operationen am Genitale und lebenslangen Hormonbehandlungen. Diese kosmetischen Operationen verbesserten die Gesundheit von inter* Kindern nicht, im Gegenteil. Sie haben meist verheerende psychische und physische Folgen für die Betroffenen. Diese Operationen werden von inter* Aktivist*innen seit einigen Jahren vehement als Menschenrechtsverletzungen beurteilt. Gefordert wird ein Stopp von Genitaloperationen an inter* Kindern. Ein rechtliches Verbot von nicht lebensnotwendigen Genitaloperationen klingt also nach einer positiven Entwicklung. Nichtsdestotrotz muss einschr?nkend darauf hingewiesen werden, dass bereits 2019 eine Studie durchgeführt wurde, die feststellte, dass die Zahl an Genitaloperationen an inter* Kindern nicht zurückging – trotz des wachsenden Bewusstseins über geschlechtliche Vielfalt und trotz der Tatsache, dass in der Medizin seit Anfang der 2000er die bisherige Behandlungspraxis kritisch reflektiert wurde.
Wie sch?tzen Sie die Situation von trans* und inter*personen an der Universit?t ein? Was sind Ihrer Meinung nach notwendige Ma?nahmen zur Gleichstellung aller Geschlechter?
Obwohl gesamtgesellschaftlich die Aufmerksamkeit für das Thema ?geschlechtliche Vielfalt“ w?chst, gibt es doch an der Universit?t zu wenig konkrete Ma?nahmen, um die Situation von trans*, inter* und nicht/non-bin?ren Personen zu verbessern. Es ist davon auszugehen, dass sich sowohl in der Studierendenschaft als auch in der Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeitenden, den Professor*innen und dem nicht-wissenschaftlichen Dienstpersonal Personen befinden, die trans*, inter* und/oder nicht-/non-bin?r sind. Deshalb braucht es geeignete Ma?nahmen, die diese verschiedenen Zielgruppen und deren Bedarfe adressieren.
Trans* und nicht-/non-bin?ren Studierenden müsste es bspw. erleichtert werden, den eigenen Vornamen oder das eigene Geschlecht zu w?hlen oder zu ver?ndern – auf der Thoska, in Friedolin und bei studentischen Prüfungsarbeiten – auch wenn sich diese Angaben von den Angaben im Personalausweis unterscheiden. Ist das aufgrund bürokratischer Hürden nicht gestattet, kann es schnell zu unangenehmen, belastenden und erniedrigenden Situationen kommen, weil das ?u?ere Erscheinungsbild scheinbar nicht mit Vornamen oder Geschlecht zusammenpasst. Nach meinem aktuellen Kenntnisstand ist eine ?nderung des Vornamens und der Geschlechtsangabe an der FSU Jena nur nach rechtlicher Namens-/Personenstands?nderung im Rahmen des Transsexuellengesetzes oder nach Vorlage eines DGTI-Erg?nzungsausweises m?glich. Das lehnen viele aus verschiedenen Gründen ab. Hier braucht es einen Abbau von bürokratischen Hürden, damit trans*, inter* und/oder nicht/non-bin?re Studierende – ebenso wie betroffene Mitarbeitende – in einem vereinfachten Verfahren den eigenen Vornamen und den passenden Geschlechtseintrag w?hlen k?nnen.
Um trans*, inter* und nicht-/non-bin?ren Studierenden entsprechende belastende Situationen zu ersparen, ben?tigt es auch vonseiten der Dozierenden Awareness. Mit einfachen Ma?nahmen kann das realisiert werden. So bietet sich an, Studierende statt mit ?Herr XY“ oder ?Frau XY“ mit ?[Vorname] [Nachname]“ zu adressieren, sowohl in Lehrveranstaltungen als auch im Emailverkehr. Ein kurzer Satz in der eigenen Emailsignatur kann ebenfalls Bewusstsein für geschlechtliche Vielfalt schaffen; das k?nnte ein Hinweis sein wie ?Mein Pronomen ist […]. Damit auch ich Sie in Zukunft richtig ansprechen kann, freue ich mich, wenn Sie mir Ihr Pronomen mitteilen.“ In Lehrveranstaltungen k?nnen Lehrende statt mit ausgedruckten Namenslisten von Friedolin mit von Studierenden selbst erstellten Namensschildern arbeiten. Als positives Vorbild geht man voran, wenn man hinter dem eigenen Namen die Pronomen angibt, die andere für einen verwenden sollen. Auch bei Zoom empfehle ich die Angabe der eigenen Pronomen hinter dem eigenen Namen. Wenn solch kleine Praktiken wie selbstverst?ndlich von Menschen angewendet werden, die selbst nicht trans*, inter* oder nicht-/non-bin?r sind, dann tr?gt das nicht nur zu einer Selbstverst?ndlichung geschlechtlicher Vielfalt bei, sondern sorgt dafür, dass sich trans*, inter* oder nicht-/non-bin?re Personen nicht als ?anders“ outen müssen.
Auch im Bereich von Antidiskriminierungsma?nahmen muss geschlechtliche Vielfalt verst?rkt mitgedacht werden. Ich begrü?e es, dass es an der FSU Jena mittlerweile F?rder-, Mentoring- und Coachingprogramme gibt, die zur Karriereentwicklung von weiblichen Nachwuchswissenschaftler*innen beitragen. Hier w?re wünschenswert, wenn auch trans*, inter* und nicht-/non-bin?re Menschen mitgedacht würden, denn auch sie haben nicht die gleichen beruflichen Chancen wie ihre cis-m?nnlichen Kollegen. Auch weitere universit?tsinterne F?rderprogramme und Ausschreibungen im Bereich Gleichstellung adressieren vorrangig weibliche Wissenschaftler*innen und Studierende. Das verkennt die Hürden und Benachteiligungen, mit denen auch trans*m?nnliche und nicht-/non-bin?re Wissenschaftler*innen und Studierende zu k?mpfen haben. Denn gerade trans*, inter* und nicht-/non-bin?re Nachwuchswissenschaftler*innen und Studierende haben h?ufig mit Selbstunsicherheiten und Zweifeln zu k?mpfen und erleben nicht selten Marginalisierung im akademischen Betrieb. Im Bereich der Karrieref?rderung gibt es hier Nachholbedarf, um diese Situation zu verbessern.
Notwendig sind aus meiner Sicht zudem Weiterbildungsma?nahmen für das wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Personal hinsichtlich der Themen ?geschlechtliche Vielfalt“ und ?Diversity Management“. Vor allem Personen in Leitungspositionen sowie Mitarbeitende in der Verwaltung empfehle ich den Besuch von entsprechenden Workshops und Seminaren, um angemessen und sensibel auf die Bedarfe von trans*, inter* und nicht/non-bin?re Personen einzugehen.
Mitarbeitende in Leitungspositionen k?nnen sich durch entsprechende Weiterbildungsma?nahmen Wissen im Bereich Geschlechtervielfalt und Geschlechterkompetenz aneignen, das u.a. bei Bewerbungsverfahren genutzt werden sollte. Hier sehe ich Optimierungspotential. Denn obwohl Stellenausschreibungen im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit alle drei in Deutschland gültigen Geschlechter adressieren müssen, so herrscht doch viel Unsicherheit wie mit trans*, inter* und/oder nicht-/non-bin?ren Bewerber*innen letztlich zu verfahren sei. Dabei mitgedacht werden müssen auch Lücken im Lebenslauf, die bei trans*, inter* und nicht-/non-bin?ren Menschen entstehen k?nnen. Den wenigsten ist bewusst, wie zeitintensiv bspw. eine k?rperliche Transition, also das Angleichen des ?u?eren Erscheinungsbilds an das eigene Geschlecht, sich bei trans* oder nicht-/non-bin?ren Personen gestaltet. Da k?nnen sich schnell Ausfallzeiten für chirurgische Operationen, den Besuch von ?rzt*innen und Psychotherapeut*innen (die aktuell laut Gesetz noch verpflichtend vorgeschrieben sind) summieren und den Fortgang der eigenen Karriere verlangsamen. Daraus darf betroffenen Bewerber*innen kein Nachteil entstehen.
Insgesamt würde ich also sagen, es gibt noch einiges zu tun an der FSU Jena, was die Gleichstellung aller Geschlechter betrifft.